der wanderer

Sadık Yalsızuçanlar:
Der Wanderer

Roman
deutsche Erstausgabe
Reihe türkische Literatur

Aus dem Türkischen
und Nachwort:
Beatrix Caner

266 Seiten
gebundene Ausgabe
ISBN 3935535112

15,50 EUR

Der Roman Der Wanderer zeichnet den „inneren Weg“ des berühmten islamischen Philosophen und Sufi-Lehrers Ibn Arabi (1165-1240) nach. Mit unvergleichlicher Sensibilität und Einfühlungsvermögen begibt sich Sadık Yalsızuçanlar auf die Spuren des andalusischen Mystikers, der auf seiner Wanderung von Spanien bis hin nach Damaskus, wo er schließlich auch starb, auch den Weg der Erleuchtung gegangen ist. Durch sein unmittelbares Wirken als Sufi Meister und durch seine Werke gehört Ibn Arabi bis heute zu den höchst geschätzten islamischen Gelehrten. Auf seinem Weg nach Damaskus hielt sich Ibn Arabi auch im damaligen Osmanischen Reich, unter anderem in der Stadt Malatya und im Sufi Derwischkloster in Konya auf und so beruht sein Ruhm in der Türkei auf einer unmittelbaren Tradition.

Sadık Yalsızuçanlar bringt nicht nur das faszinierende Leben dieses Sufi Meisters den Lesern nahe, durch seine authentischen Schilderungen werden ungewohnte, komplexe philosophische Gedankengänge des Meisters vermittelt, eine “andere” Logik erspürbar gemacht. Der Roman ist durch eine stimmige Sprache eine fesselnde Lektüre.

»Mein Herz ward empfänglich für jegliche Form«

Nachwort von Beatrix Caner

Sadik Yalsızuçanlar, 1962 in der Stadt Malatya geboren, gehört heute zu den bemerkenswertesten Literaten der Türkei. Wie der berühmte türkische Autor und Kritiker Enis Batur es ausdrückte: Yalsızuçanlars Vorliebe für islamisch-mystische Themen war der Grund für seine »späte Entdeckung« - in der Türkei gehören heute noch die erfolgreichsten Autoren eher zu den Linken als zu den Konservativen. Tatsächlich ist die Mischung, aus der das Werk dieses ungewöhnlichen Literaten besteht, sehr selten - vielleicht sogar beispiellos in der jüngeren türkischen Literatur. So wie eines seiner großen Vorbilder, Ahmet Hamdi Tanpınar (1901-1962), schöpft auch er aus dem Schatz von »Ost und West«. In seiner zarten, von Liebe dominierten Poetik findet man Spuren von Heidegger und Sartre, ebenso von den klassischen Mystikern Yunus Emre, Mewlana und Ibn Arabi - und natürlich von den modernen türkischen Literaten Ahmet Hamdi Tanpınar und Bilge Karasu -, sowie genuine, lyrische Bilder. Er scheint für sich ganz neue literarische Kategorien zu schaffen ohne den Eindruck zu hinterlassen, er kenne die klassischen nicht. Gerade das macht ihn so interessant wie auch beinahe unbegreiflich: ein mystischer Dichter, der mit der Literatur im besten europäischen Sinne experimentiert.
Ist das überhaupt möglich?
Wie das möglich ist, zeigt sein Roman über eine herausragende Figur der islamischen Mystik: Der Wanderer. Muyiddin Ibn Arabi (1165-1240), Protagonist dieses experimentellen Romans, gilt als einer der schwerstzugänglichen Dichter und Mystiker des Islam, der überdies der Nachwelt eine sehr komplizierte Schöpfungstheorie und einen ebensolchen Gedankenkomplex über Sprache und Buchstaben hinterlassen hat. Liest man seine Originalwerke (es gibt deutsche Übersetzungen, die wir mit den entsprechenden Titeln nennen, um ein Nachschlagen zu ermöglichen), so wird man vor allem einer für Europäer völlig fremden Logik begegnen. Deshalb ist auch die Lektüre dieses Romans nicht leicht. Das Lesen erfordert Vorkenntnisse - oder aber eine gewisse geistige Anstrengung, eine Bereitschaft, sich in fremde Gedankengänge einzufinden und sich auch auf Unbekanntes einzulassen, intuitiv zu erkennen, was gedacht oder gemeint ist oder gemeint sein könnte - also sich einem geistigen Abenteuer zu öffnen. Dafür wird dieses Buch, das – zugegeben - nicht zu der Unterhaltungsliteratur gehört, mit einer reichen Palette an Erkenntnissen und Einsichten, mit Aha-Erlebnissen und geistigen Kleinoden belohnen. Und dieses Buch kann den geneigten Leser auch zu Nachforschungen motivieren, woher die eigenartigen Theorien Ibn Arabis stammen und welche geistige Verwandte er wohl hat (neben klassischen Grundwerken der mystischen Literatur anderer großer Religionen wäre der Name des Sprachphilosophen Wittgenstein eine Anregung für eine weiterführende Suche). Oder es regt einfach nur zum Nachdenken über unseren eigenen Umgang mit Sprache, mit Worten und Kommunikation an.
Das Leben, vor allem aber den geistigen Erkenntnisweg Ibn Arabis nachzuzeichnen, erforderte auch vom Autor eine kenntnisreiche und umsichtige Behandlung der vorhandenen Quellen: Überlieferte und verbürgte Episoden, schriftliche Zeugnisse, Originaltexte Ibn Arabis bilden dabei eine solide Basis. Zu diesen »sachlichen« Quellen gesellen sich mündliche Überlieferungen aus Anatolien, allen voran aus der Stadt Malatya, in der Yalsızuçanlar aufgewachsen war und in der auch sein Romanheld eine wichtige Zeit seines Lebens verbracht hatte. Alles das fließt im Roman zu einer Einheit zusammen.
Aus unzähligen Mosaiksteinen hat der Autor eine poetische Textkonstruktion geschöpft, die Schritt für Schritt in die Koordinaten des Denkens Ibn Arabis einführt - und auf eine Reihe von Fragen eine Antwort sucht und uns diesen näher bringt: Waren äußere Einflüsse wie die derbe Natur Andalusiens, die dortige tolerante und bereichernde Multikulturalität, die innere wie äußere Struktur der Städte Sevilla und Kordoba, die Wanderungen in dieser Landschaft Voraussetzung und Bedingung für einen solch ungewöhnlichen Werdegang? Oder spielten geistige Disposition, familiäre Voraussetzungen, gute Lehrer und geistige Führer eine wichtigere Rolle? Waren es die menschlichen Erfahrungen oder die ekstatischen Zustände, die Ibn Arabi zu spirituellen Erkenntnissen führten? Waren es Bücher in den berühmten Bibliotheken von Cordoba, die Ibn Arabi zum Ersinnen neuer Theorien über die Schöpfung der Welt und über den Sinn der Buchstaben veranlassten? Gehört nicht sehr viel Mut dazu, außerordentliche Zustände wie Ekstase oder ungewiss lange andauernde Ohnmachtsanfälle auf sich zu nehmen? Ist der Verzicht auf alles Weltliche Großherzigkeit oder Unsinn - oder eine Art von Hingabe, die uns heute einfach fremd geworden ist?
Sehr viel komplizierter sind die Fragen, die den Erkenntnisweg zu der Schöpfungstheorie Ibn Arabis betreffen. Ganz offenbar gibt es Parallelen zu den beiden Buch-Religionen Judentum und Christentum, schließlich entstammt Ibn Arabi aus einem Gebiet - aus Andalusien -, in dem diese das fruchtbarste Nebeneinander in Europa eingegangen waren. Auch der Erkenntnisweg selbst ist nichts Neues und Ungewöhnliches, denn die intuitive Erkenntnis, zudem oft in Trance oder im Traum, war überall auf der Welt verbreitet und ist bis heute die archaischste Form religiöser Erfahrungen. Ganz sicher gab es auch einige Grundwerke, die als Ausgangspunkt für seine Betrachtungen dienten. Im Kapitel 60. gibt es einen konkreten Hinweis darauf: »In jenen Tagen hatte er begonnen, das »Buch der Weisheiten« der Symbolik über die Himmelspole zu lesen.« Das ist ein Grundwerk über die göttliche Einheit und der Gottesschöpfung, über das Licht der Weisheit, das allen Geschöpfen innewohnt und über die Rolle und Bedeutung der Buchstaben. Dieses Buch ist ein Grundstein seiner folgenden Werke. Nach dieser Lektüre beginnt für Ibn Arabi eine völlig neue Phase und er ist überzeugt, dass Gott ihm die wichtigsten Geheimnisse enthüllt hat und noch weitere enthüllen wird. Danach dringt er immer tiefer in das geheime Wissen ein und formuliert seine Ansichten und Erfahrungen. Er formuliert sie so, dass sie in den Grenzen seines Glaubens verständlich sind und mit diesem auch konform.
Liest man die Rezensionen über die Übersetzungen aus den Originalwerken Ibn Arabis ins Deutsche, gewinnt man leicht den Eindruck, dass die Fremdheit kaum zu überwinden ist und das Verstehen der Texte nicht einmal Eingeweihten wirklich vergönnt ist. Aber: Was den Duktus betrifft, so unterscheiden sich Ibn Arabis Texte kaum von anderen religiösen Werken anderer Religionen, in die sich heutige Menschen ebenfalls erst einarbeiten müssen. Zudem sind gewisse Parallelen so offensichtlich, dass es letztlich nur eine Frage der Wortwahl ist, nachzuvollziehen, was genau beschrieben ist - und diese Wortwahl wird inzwischen an zwei US-amerikanischen Universitäten erstmalig in einem wissenschaftlichen Vergleich untersucht.
Sehr interessant und geradezu „modern“ wirkt dagegen die Vorstellung Ibn Arabis, dass es eine Reihe von Möglichkeiten, von „Modellen“ der Schöpfung gibt, die sich jeden Augenblick verwirklichen können, wenn sie von einem Menschen „gedacht“ würden. Diese Auffassung von der Wirklichkeit kommt heutigen wissenschaftlichen Theorien über Parallelwelten und -universen, oder auch Theorien über Wirklichkeitsmodelle sowie Überlegungen über individuelle Mikrokosmen sehr nahe. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich viele führende Physiker der Mystik sehr nahe fühlen. Man denke nur an Einstein („Gott würfelt nicht.“) oder Hawkings geheimnisvollen und vieldeutigen Aussagen über die Beschaffenheit des Universums. Die Berührungspunkte von Wissenschaft undGlauben sind nicht einmal in den technischsten Bereichen von der Hand zu weisen. Religiöse Erfahrungen werden in unserer Zeit anders betrachtet als in den letzten Jahrhunderten. Tatsache ist, dass die Welt Ibn Arabis für uns heutige Menschen sehr fremd vorkommt. Tatsache ist auch, dass der Weg der Sufi-Derwische nicht für jedermann geeignet ist. Aber unter all den heutigen geistigen Alternativen einer „Sinnsuche“, die der „Markt“ bietet, wirkt diese grundehrliche, tolerante und auf grenzenlose Liebe zu den Menschen und zum Schöpfer bauende, alle Glaubensrichtungen gleichberechtigt integrierende Weltanschauung als eine Hoffnung für eine ferne Zukunft, in der ein gleichberechtigtes Leben nicht nur theoretisiert, sondern gelebt wird.
 

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